„Der Countertenor ist eine neue Art Mann“. Das sagt der Countertenor Philippe Jaroussky in einem Artikel von ZEIT ONLINE und er meint damit: „Ein Countertenor zu sein ist eine Art auszudrücken, was ein Mann sein kann. Er kann seine weibliche Seite entdecken und eine Vielzahl von Gefühlen ausdrücken.“ Daraus macht die Autorin eines später erschienenen Artikels im selben Online-Magazin in einem Zwischentitel “Not am Mann: Kann ein Countertenor männlich sein?” So ist es recht, da schlägt sich ein Mann schon einmal auf die Seite der Frauen, schon kommt eine Frau daher und zweifelt an seiner Männlichkeit. Oder will sie etwa den Countertenor in Richtung Kastrat ziehen und damit das Vorurteil des Unaufgeklärten nähren, dass es mit der Männlichkeit eines in der Alt- oder gar in der Sopranlage singenden Mannes etwas nicht ganz in Ordnung sein kann? Das trifft zwar bekanntlich auf den Kastraten zu, keinesfalls jedoch auf den Countertenor. Während ersterer als Knabe per Manipulation an seiner Männlichkeit daran gehindert wurde, den Rest seines Lebens mit voller Bruststimme singend wie ein Mann zu tönen, also nicht heller als ein Tenor, vermeidet der Countertenor die Bruststimme zumindest weitgehend und setzt auf eine trickreiche Kopfstimmentechnik, die zwar einen kleineren Stimmumfang zeitigt als die volle Bruststimme des Kastraten und zu einem komplett anderen Klang führt, die aber ebenfalls Alt- und Sopranlagen abdeckt. Da Kastraten heutzutage gottlob nicht mehr „produziert“ werden, wird der Countertenor außer in neueren Kompositionen seit Beginn der historischen Aufführungspraxis auch für Partien eingesetzt, die Komponisten ursprünglichen dem Kastraten auf den Leib geschrieben hatten. Während die historisch orientierte Spielweise anfänglich nicht selten klanglich arg garstige Ergebnisse zeitigte, heutzutage jedoch dank langjähriger Übung auf höchstem Niveau stattfindet, sind anfänglich dünne, nicht unbedingt durchsetzungsfähig tönende Countertenöre zu verzeichnen, während diese heutzutage grundsätzlich perfekte gesanglich Leistungen abliefern. Und noch etwas ist festzustellen: Die Anzahl der Countertenöre steigt jährlich, und die Anzahl ganz hervorragender Countertenöre, die sich durch stark individuelle Stimmgestaltung auszeichnen, nimmt erfreulicherweise ebenfalls deutlich zu. Zu letzterer Spezies gehört der junge Reinoud van Mechelen, der sich den Musikern seines jüngst ins Leben gerufenen Ensembles A Nocte Temporis auf dem Album „Erbarme Dich“ zusammengetan hat, um ausgewählte Kantaten Johann Sebastian Bachs mit obligater Orgel und Traversflöte, untergliedert von instrumentalem Bach, in höchst lebendiger Weise kompetent zum Klingen zu bringen.
Einen attraktive Farbgewinn erzielt „Erbarme Dich“ in den Kantaten, in denen Bach die Flöte dem Countertenor nicht nur begleitend zuarbeiten lässt, sondern diesen auch deutlich kontrastiert. Diese Doppelrolle spielt im Ensemble A Nocte Temporis eine Melzer Kopie einer Palanca Flöte aus dem Jahr 1750, gespielt von Anna Besson. Als Cello des Ensebles dient eine Gérard Sambot Kopie einer Antonio Stradivarius, gespielt von Ronan Kernoa. Benjamin Alard schlägt die in der Straßburger Sainte Aurélie Kirche installierte André Silbermann Orgel aus dem Jahr 1718. Dieses formidabel aufspielende Instrumentalistentrio erweist sich als idealer Partner für den Countertenor Reinoud van Mechelen, dessen intelligent geführte hohe Stimmlage die charakteristische Männlichkeit des Tenors nie verleugnet, die sich in enormer Ausdrucksfähigkeit äußert und starke Emotion vermittelt. Dank gelungener Aufnahmetechnik des Downloads empfiehlt sich dieses Album den Anhängern hoher Gesangskunst gleichermaßen wie dem Bach-Exegeten.
Um abschließend nochmal die Frage aufzugreifen “Kann ein Countertenor männlich sein?”: Ja er kann, schließlich ist er von seiner Konstitution ein ganzer Mann. Und wenn er Alt- oder Sopranpartien singt, bleibt er unverkennbar ein Mann, genauer ein Tenor, der beim Singen seine Stimmlage von der Brust in den Kopf verschiebt. Auch in der hohen Stimmlage klingt er deshalb niemals wie eine in dieser Stimmlage intonierende Frau. Und das ist gut so. Ansonsten gäbe es auch keine Berechtigung für die Existenz des Countertenors, können Frauen diese Stimmlage doch müheloser, weil natürlich als Bruststimme realisieren, nicht jedoch mit dem Extraprickeln, das der Countertenor aus seiner speziellen Kunst generiert, den Tenor in die Gefilde des Alt und Sopran zu transponieren.
Reinoud Van Mechelen, Tenor
Anna Besson, Traversflöte
Benjamin Alard, clavicembalo
A Nocte Temporis