Wenige Kilometer voneinander entfernt erblickten der spätere Saxophonist Mulo Francel und der spätere Pianist Chris Gall getrennt das Licht der Welt im südlichsten Süden Bayerns in unmittelbarer Nachbarschaft zum Alpenkamm. Diese landschaftliche und landsmannschaftliche Nähe konnte nicht verhindern, dass die beiden als fertige Künstler, von denen der eine sein Blasinstrument als Autodidakt erlernte hatte, während der andere eine Pianisten-Ausbildung am Berklee College erfolgreich absolvierte, erst viel später aufeinandertrafen. Die gemeinsame Arbeit in und mit dem Quartett Quadro Nuevo, das sich dem Jazz und der Weltmusik verschrieben hat, war Anlass für den Start einer gemeinsamen Musiktätigkeit. Milo Francel ist bis heute aktives Gründungsmitglied des Quartetts, während Chris Gall das Quartett zum Quintett ergänzt, wie auf dem Album Tango zu hören. Auf Mythos sind die beiden Bayern als Duo ohne Rhythmusgruppe zu hören.
Die Idee zu Mythos entstand am Ende einer anstrengenden Kletterpartie auf Samos, in der Nähe des Ikarus-Meeres. Den Helden dieser sagenumwobene Gegend Griechenlands verdankt das Album auch die Titel „Ikarus' Dream“, „Dido's Lament“, „Sketches of Styx“, die zusammen mit drei weiteren Titel Originalsongs darstellen. Diese und die weiteren Songs aus fremder Feder erfahren eine Darstellung die im besten Sinne höchst eigenartig anmutet und am ehesten dem Jazz mit Anleihen aus dem Softrock zuzuordnen ist. Bei aller entspannten Gangart erweist sich Mythos als spannendes Album, das von Titel zu Titel mit neuen Ideen überrascht und von der exzellenten Ausführung durch die beiden Musiker enorm profitiert.
Der erste Titel „Yorke's Guitar“ erweist sich ein früher Höhepunkt des Albums und baut auf einer kreisförmigen Meditation mit vom Piano in Art eines Philip Glass ruhig ausgebreitetem Klangteppich, auf dem das Saxophon seine Melodie spinnt. Das erinnert an hypnotischere Momente eines Thom Yorke, dem Bandleader der Rockband Radiohead. Recht minimalistisch, wenn auch kantiger im Ansatz und in der Durchführung geht es auch auf „Palinura“ zu.
Die Originaltitel „Die 7 Weisen“, in dem Mulo Francel auf die Bassklarinette zurückgreift, als auch "Ikarus' Dream" zaubern mit Leichtigkeit eine atmosphärische, an Keith Jarrett angelehnte Stimmung, Komposition und Performance. "East of the Sun" führt mit gehauchtem Saxophonklang und cool aufspielendem Piano federnden Schrittes über „Reality Check“ zu Bachs „Jesu bleibet meine Freude“ in der überzeugend ausgeführten jazzigen Version des Duos. Die weitere Klassik-Komposition auf Mythos „Dido's Lament“ erfährt unter dem Duo eine hörenswerte Frischzellenkur, der auch eingefleischte Klassik-Anhänger nicht wiederstehen können.
Mythos endet mit „Old Folks“, den das Duo als spätnächtlichen Titel inszeniert, der die Stimmung in einem Jazzkeller auf den Punkt bringt und optimal als Ausklang eines überaus gelungenen Albums gewählt ist, das uns in den aktuellen Corona-Zeiten ein wenig Freude ins Homeoffice-dominierte Heim bringt.
Mulo Francel, Saxophon, Klarinette
Chris Gall, Klavier