Als Reaktion auf die zunehmende Usurpation der Salzburger Festspiele und der Bayreuther Wagner Festspiele durch die Nationalsozialisten setzte sich 1938 kein geringerer als Arturo Toscanini dafür ein, gewissermaßen antifaschistisches Orchester Festspiele in der Schweiz zu etablieren. Schon damals war das Luzerner Festspielorchester kein feststehendes, sondern ein ad hoc aus Spitzenmusikern Europas aufgestelltes Ensemble, das durch den überragenden Orchestererzieher Arturo Toscanini in unglaublich kurzer Zeit zu einem Spitzenorchester zusammengeschweißt wurde. Ab 1943 wurde das ursprüngliche Konzept es international zusammengewürfelten Festspielorchesters für fünfzig Jahre zugunsten eines ausschließlich aus Schweizer Musikern zusammengesetzten Orchesters ad acta gelegt. In den neunziger Jahren wurde die Idee eines international besetzten Orchesters erneut aufgegriffen und 2003 stellte Claudio Abbado dieses Lucerne Festival Orchestra dem darüber begeisterten Festspielpublikum vor. Bezüglich Auswahl der Musiker, die damals neben namhaften Solisten und Orchesterstimmführern vor allem aus dem Gustav Mahler Jugendorchester und dem European Community Youth Orchestra rekrutiert worden waren, und Formung des Orchesters trat Abbado in die Fußstapfen Toscaninis. Auf Abbado folgte Andris Nelsons und seit Sommer 2015 hat Riccardo Chailly, im Hauptberuf Musikdirektor der Mailänder Scala die Rolle übernommen, die Zusammensetzung des Lucerne Festival Orchestra zu bestimmen und jährlich Konzerte in Luzern und danach auf Gastspielreisen zu dirigieren.
Interessant ist, dass dieses Orchester ungeachtet wechselnder internationaler Besetzung und zeitlich begrenzter Aktivität seit dem ersten Konzert unter Abbado vor nunmehr fünfzehn Jahren ein gleichbleibendes Klangideal kultiviert, das es von jedem anderen Spitzenorchester in Europa unterscheidet: bis ins extreme Fortissimo hinein kultiviert dieses Orchester einen unglaublich luxuriösen, dem Hellen wie dem Dunkeln zugänglichen Sound mit samtigen Streichern und stets zivilisiert abgerundet aufspielenden Bläsern. Von diesem Sound profitiert auch das neue Strawinski Album, das als Besonderheit das gerade einmal zehn Minuten dauernde Orchesterstück "Chant Funèbre" enthält, ein Trauergesang über das Dahinscheiden von Nikolai Rimski-Korsakow, Mentor und Kompositionsprofessor Strawinskis. Besonders ist an diesem in seiner Farbigkeit an Rimski-Korsakovs farbige Instrumentationskunst erinnernde, wagnerisch abgedunkelte Stück, dass es über hundert Jahre als verschollen gegolten hatte, erst 2015 zufällig im St Petersburger Konservatorium wiederentdeckt wurde und hier dem Anlass angemessen überaus prächtig klingend und perfekt musiziert zum ersten Mal eingespielt worden ist. Eine Trouvaille des russischen Meisters, deren späte Wiederentdeckung sich schon alleine deshalb lohnt, weil sie eine Lücke in der kompositorischen Entwicklung Strawinskis schließt.
Drei kurze wohlbekannte, unmittelbar vor dem frühen "Chant Funèbre" geschaffene, hier exquisit zum Klingen gebrachte Stücke "Feu d'artifice", "Scherzo fantastique" und " Le Faune et la Bergère" tuen kund, dass Riccardo Chailly den frühen Strawinski neben dem "Le Sacre du Printemps", das bei der Uraufführung in Paris unglaubliche Tumulte auslöste, heute jedoch vom Konzertpublikum trotz zum Teil roher Wildheit nahezu kulinarisch genossen wird, zu schätzen weiß. Die klangliche Opulenz des Lucerne Festival Orchestra und die Detailverliebheit Chaillys, der im Vergleich zu deutlich wilder konzipierten Interpretationen von beispielsweise einem Pierre Monteux (Aufnahme 1956) oder einem Georg Solti eher gemessen ans Werk geht, kommen der Genießbarkeit des "Sacre" zugute. Dem kulinarischen Genuss gibt man sich allerdings gerne hin, wenn er dermaßen perfekt serviert wird wie vom Lucerne Festival Orchestra unter Riccardo Chailly anlässlich dieser Liveaufnahme vom August 2017.
Sophie Koch, Mezzosopran
Lucerne Festival Orchestra
Riccardo Chailly, Dirigent