Einiges, was vor allem renommierte Komponisten an unvollendeten Werken hinterlassen haben, hat nachgeborene Musikologen und Komponisten schon immer gereizt, zu komplettieren. Darunter finden sich Werke, die der Komponist vor der Vollendung zur Seite gelegt hatte , wie etwa die „Unvollendete“ von Franz Schubert, und Werke , die der Komponist angesichts seines Ablebens nicht mehr vollenden konnte, wie Mozarts Requiem und die „Neunte“ von Bruckner, deren vierter Satz von Fremder Hand mehrfach komplettiert worden ist. Ein Extrem unter den letztgenannten Werken stellt Mahlers 10. Sinfonie dar, die als Torso und weitgehend lediglich als Skizze aus der Meisters Hand vorliegt. Der erste Satz seiner Zehnten liegt im Original soweit komplett vor, dass Ernst Krenek nicht allzu große Mühe hatte, ihn zu komplettieren. In dieser Rumpfgestalt ist Mahlers letztes Werk denn auch bereits seit Jahrzehnten im Konzertsaal zu hören und Bestandteil von Mahler-Sinfonien-Komplettaufnahmen. Die erste vollständige Fassung, die vom englischen Musikwissenschaftler Deryck Cooke stammt, erklang 1964 im Konzertsaal. Komplettiert ist diese Fassung nicht wirklich, sondern in dem Sinne zusammengestellt, dass Mahlers Skizzen aufführbar gemacht sind. Entsprechend skelettartig, mitunter dünn, ja dürr kommt die Zehnte in der Cooke-Fassung herüber. Auf Cooke folgten zahlreiche Versuche in Gestalt von Arrangements, Vervollständigungen, Orchestrierungen und Adaptionen, die unfertige sinfonische Hinterlassenschaft Mahlers in ein anhörbares Ganzes zu überführen, unter anderem vom russischen Dirigenten Rudolf Barshai mit dem bis vor kurzem wohl gelungensten, da am wenigsten skeletthaft tönenden Arrangement.
Nun liegt der neueste Versuch vor, die zukunftsweisende, teils überirdisch schöne (Adagio!) Zehnte Mahlers in ein anhörbar Ganzes mit Fleisch an de Knochen zu arrangieren. Dieses Mal war die Maltesische Dirigentin und Komponistin Michelle Castelletti an den Mahlerschen Skizzen zu Gange, die wie ehemals Arnold Schönberg in seinen Revisionen Mahlerscher Werke eine Kammerorchesterversion erstellt hat, die auf Cook und Barshai aufbauend mitunter frech instrumentierend und von Mahler entworfene Dissonanzen voll auskostend, jedoch weitgehend idiomatisch an die Vorlage herangeht.
Dieses vielleicht vollständigste, weil einer Vervollständigung mit viel Fleisch an den Knochen klanglich am Nächsten kommende Arrangement Castellettis ist so etwa wie eine Steilvorlage für die finnischen Interpreten, dem fulminanten Lapland Chamber Orcherstra unter seinem fantastischen künstlerischen Leiter John Storgårds. Beide, Orchester und Dirigent sind als Spezialisten zeitgenössischer Musik prädestiniert für eine erstklassige transparente, detailliert ausgeführte und stets spannende Interpretation dieses Arrangements von Mahlers letzter, unvollständig überkommener Sinfonie mit überraschend gesetzten Klangfarben.
Bereits vor zwei Jahren haben dieselben Interpreten diese Fassung der Mahlersinfonie im Konzertsaal erfolgreich aufgeführt. Möge der jetzt vorliegende, tontechnisch hervorragend realisierte Download Anlass sein für weitere öffentliche Aufführungen. Genügend für diese Aufgabe hochqualifizierte, motivierte Kammermusikensembles finden sich heutzutage überall auf der Welt, zum Beispiel in Gestalt der exzellenten Münchener Kammerorchesters, dem John Storgårds als „Artistic Partner“ verbunden ist.
Lapland Chamber Orchestra
John Storgårds, Dirigent