Heinz Holliger ist einer der zwischenzeitlich nur noch sehr selten zu findenden Musiker mit breitem musikalischen Horizont, die als Instrumentalist, ernstzunehmender Komponist und stilbildender Dirigent sind. Bekannt wurde der gerade 80 Jahre alt gewordene Schweizer in der Welt der klassischen Musik ab 1959 als Oboist, zunächst als Solo-Oboist des Baseler Orchestergesellschaft und zwei Jahre später als Solooboist, der im Laufe der Jahre mit zahlreichen Plattenaufnahmen als die Nummer Eins der Oboenspieler in Europa gefeiert wurde. Beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD wurde er 1960 mit dem ersten Preis für Oboe ausgezeichnet. Als Komponist ist er seit seiner Studienzeit aktiv und Pierre Boulez war einer seiner prominenten Lehrer. Heute kann Heinz Holliger auf zahlreiche erfolgreich aufgeführte Kompositionen unterschiedlichster Genres zurückblicken von der Oper bis zur Kammermusik. Von 1998 bis 2001 war er auch als Chefdirigent des Orchestre de Chambre de Lausanne tätig. Jüngeren Konzertgängern dürfte Holliger zwischenzeitlich hauptsächlich als Dirigent unterschiedlicher Kammer- und Sinfonieorchester bekannt sein. Obwohl oder gerade deshalb, weil er seine Dirigiertätigkeit relativ spät gestartet hat, ist er ob seiner profunden Kenntnis der Musikwerke und seiner Fähigkeit diese in einzigartiger, überzeugender Weise umzusetzen von den Orchestern, mit denen er arbeitet ebenso hochgeschätzt wie vom Publikum. Nicht selten bekommt man unter seiner Orchesterleitung vermeintlich zur Genüge landauf, landab interpretierte Werke in überraschend neuer Gestalt zu hören, die deren Kern in einer Art und Weise überraschen freilegt, die einen völlig neuen Blick auf die Werke erlaubt, einen Blick, der sofort überzeugt.
So geschehen mit seiner vor kurzem vollendeten Gesamtaufnahme der Orchester- und Konzertwerke Schumanns mit dem WDR Sinfonieorchester Köln Orchester, mit der er klar und deutlich nachweist, dass Robert Schumann keineswegs ein mäßig vollkommener Komponist, dessen Orchesterwerke ohne Retuschen der Instrumentierung nicht aufführbar sind. Wie weit dieses Vorurteil neben den Tatsachen liegt beweist Holliger überzeugend mit einer durch und durch luziden Orchestersprache. Vorurteile besteht auch im Hinblick auf die Orchesterwerke eines Franz Schubert, dessen „Große C-Dur Sinfonie“ im Geruch steht, wegen „himmlischer Längen“ Langeweile bei den Hörern zu erzeugen, weshalb von Dirigenten alle möglichen Maßnahmen ergriffen wurden und werden, um diesem Eindruck mit Temporückungen und dadurch entgegenzuwirken, dass die vermeintlichen Längen in einer dicken romantischen Orchestersoße ertränkt werden. Dabei braucht es weder Temporückungen noch eines aufgedickten Klangbreis, um die Schönheit der Musik dieses Romantikers frei zu legen. Angesagt sind vielmehr ein konstantes Tempo, das in überzeugender Weise die Zeit im langsamen Satz der großen C-Dur Sinfonie zum Stehen bringt, und eine luzide Klangerzeugung wie im Fall der Schumann-Sinfonien.
Das neue Album mit Schuberts Orchestermusik enthält die Sinfonien Nr. 1 und 5 sowie die Ouvertüre Fierrabras. Welch herrlich instrumentiertes Frühwerk die erste Sinfonie eigentlich ist, und welche überraschende, weil abrupte, jedoch keinesfalls ungelenke Wendungen des Melodienflusses dem jugendlichen Franz Schubert samt raffinierter Doppelbödigkeit hier eingefallen und durchsichtig instrumentiert sind, wird in der Neuaufnahme mit dem Baseler Kammerorchester zum ersten Mal erlebbar. Wegen ihrer redu¬zierten Besetzung, Klarinetten, Blech und Schlagzeug fehlen, gilt die fünfte Sinfonie als die die kammermusikalischste der Schubert-Sinfonien, deren betörende Melodien vom Baseler Kammerorchestergenial umgesetzt werden. Die Ouvertüre zur Oper Fierrabras ist ein weiteres Mustereispiel für die Doppelbödigkeit der Kompositionen Schuberts, das hier durch heftigen Blechbläsereinsatz ein zusätzliches Moment der Spannung erhält.
Dieses Album ist wie das Vorgängeralbum wegen der konsequenten Entschlackung der Partituren durch einen wahren Musiker, durch Heinz Holliger wiederum eine Bereicherung der auf Tonträger erhältlichen Aufnahmen mit Schuberts Orchesterkompositionen.
Kammerorchester Basel
Heinz Holliger, Dirigent