Kaum ist das Beethoven-Jubliäumsjahr 2020 mit seinem unvermeidlich erhöhten Aufkommen neuer Aufnahmen des Jubilars vorbei, erscheint beim Label Signum Records ein Album des Komponisten mit seinen letzten drei Sinfonien. Muss das sein? Zumal in diesem Paket die neunte Sinfonie mit dem berühmten Schlusschoral enthalten ist, der sich zu so etwas wie die europäische Hymne entwickelt hat und damit recht häufig zur Aufführung gelangt. Die Antwort lautet im Fall dieser Neuaufnahme ganz klar „ja, das muss sein“. Noch nie, selbst nicht von dirigierenden Genies wie Arturo Toscanini, ist die Neunte in dieser Dringlichkeit und Deutlichkeit zu hören gewesen. Da wird nicht geschwurbelt, unter Weihrauch verdeckt, zelebriert und religiös überhöht. Vielmehr herrscht allzeit Klarheit. Zielgerichtet, zügig, mit enormem Schwung, detailversessen und unter glühender Intensität geht es im ersten Satz durch dick und dünn. Überbordende Wildheit und Wucht treiben das Scherzo an und unbedingt voran. Hart kontrastiert dazu das überaus zart umgesetzte Trio. Mit der Eröffnung des Finales der Beethoven-Neunten wird der Hörer unvermittelt von der „schrecklichen Fanfare“ in eine beängstigend schreckliche Hölle gerissen, aus der er erst von der versöhnlichen Aufforderung des Basses befreit wird, diese Töne nicht weiterzuverfolgen. Das vom Dirigenten gnadenlos durchpeitschte Alla-Marcia-Zwischenspiel gibt für den darauffolgenden Tenor-Jubel, in den der Chor freudig einstimmt, das Ziel vor, dem Finale nur unterbrochen durch seltenes, dadurch aber umso beeindruckenderes Aufatmen freudig entgegenzueilen. Diese Neunte ist schlicht wunderbar inszeniert und durchgeführt.
Beschert haben uns dieses Wunder einer neunten Beethoven-Sinfonie Thomas Adès am Dirigentenpult der Britten Sinfonia. Dieses in Cambridge ansässige, 1992 gegründete Kammerorchester ist ein flexibles Ensemble, das sich aus freiberuflich tätigen Musikern aus unterschiedlichen Ländern Europas zusammensetzt, die projektbezogen engagiert werden. Das nach dem Komponisten Benjamin Britten benannte Orchester, das etwa 70 Konzerte pro Jahr gibt, tritt je nach Projekt mit unterschiedlichen Dirigenten auf. Für sein Beethoven-Projekt, das die Aufführung und Einspielung sämtlicher Sinfonien vorsieht (mit dem vorliegenden Album ist das Projekt vollendet) hat das Orchester Thomas Adès gewählt, der als Pianist, aber auch als Komponist überaus erfolgreich ist, und der als Dirigent spätestens mit seiner aktuellen Beethoven-Serie eine unverkennbar individuelle Marke in der Phalanx der Sinfonien-Aufnahmen des Bonner Meisters gesetzt hat.
Auch die beiden weiteren Sinfonien auf diesem Album, die siebte und die achte Sinfonie hinterlassen beim Hörer mit ihrem vor Energie schier berstenden Ansatz einen tiefen Eindruck, der im Falle der achten Sinfonie den Höhenflug der neunten Sinfonie wiederholt. Gibt es in der Diskographie der siebten Sinfonie durchaus Konkurrenz, die mit vergleichbarem Schwung daherkommt, erweist sich die achte Sinfonie unter Adès mit ihrem rasend schnell genommenen ersten Satz als überaus eigenwillig gestaltet. Derart kantig und fern jeder Beschaulichkeit wiedergegeben könnte diese Sinfonie auch aus der Feder eines Igor Strawinski stammen. Diese Interpretation lässt die zumeist uninteressierten und damit uninteressanten Wald-und-Wiesen-Deutungen der Konkurrenz weit hinter sich und sie stellt in der Tat so etwas dar wie eine Rehabilitation des auf die Uraufführung zurückgehenden und mehr oder weniger bis heute geltenden Verdikts, es handle sich um ein Werk minderer Güte Beethovens. Das Gegenteil ist ganz offensichtlich der Fall.
Wie auch im Fall der beiden vorausgehenden Beethoven-Alben in dieser Besetzung umfasst das vorliegende Album ein Werk des zeitgenössischen englischen Komponisten Gerald Barry. Für Sopran und Orchester besetzt, handelt es sich bei Eternal Recurrence um eine Vertonung von Passagen aus Nietzsches Also sprach Zarathustra. Das Stück lacht und brüllt, mit einer starken Betonung der antiphonalen Bläsersätze, hohen Trompeten und Hörnern, die Motive im Orchester hin und her werfen, während die Sopran-Koloratur-Gesangslinie um ihre eigenen hochvirtuosen Einwürfe kämpft. Das erinnert an Janaceks Sinfonietta, aber auch an Strawinskys Dumbarton Oaks. Jennifer France meistert die Herausforderungen dieser Komposition mit beachtlichem Elan und die Britten Sinfonietta liefert dazu kongenial de zu den Beethoven-Sinfonien stark kontrastierenden, gewollt unbequemen Sound.
Diesem außergewöhnlich gelungenem Album kann man nur weite Verbreitung wünschen.
Jennifer France, Sopran
Christianne Stotijn, Mezzosopran
Ed Lyon, Tenor
Matthew Rose, Bass
Britten Sinfonia
Thomas Ades, Dirigent