Im Gegensatz zum allgemein akzeptieren Jammern über das Niveau heutiger Sänger im Vergleich zur ach so viel besseren Vergangenheit finden sich heutzutage zunehmend hervorragend ausgebildete junge Sängerinnen und Sänger, die eindrücklich das Gegenteil beweisen: hohe und höchste Sangeskunst. Lediglich der Nachwuchs für das Fach der Tenöre lässt zu wünschen übrig. Aber das war schon immer so – Leo Slezak beklagte schon vor hundert Jahren die fatale Situation von Tenören – und es scheint weniger eine Generationenfrage als eine Frage des beschränkten Reservoirs an geeignetem Stimmmaterial zu sein. Hinzu kommt, dass Tenöre im täglichen Opernbetrieb auffällig schnell verheizt werden, weil sie zu früh zu schnell aufsteigen oder sich in ihrer Karriere nicht durch einen sensiblen Lehrer begleiten lassen, der sie vor vorzeitigem Stimmverschleiß schützt.
Die Sopranistin Anna Lucia Richter gehört jedenfalls ganz klar zur Riege der hervorragend ausgebildeten jungen Sängerinnen und Sängern. Sie besitzt nicht nur eine perfekt trainierte Stimme, sondern auch einen hellwachen Intellekt, der es ihr gestattet Schubert Lieder nicht nur herzergreifend schön zu singen, sondern unter vollem Einsatz ihrer Stimme zu Herzen gehend individuell mit enormem Nachdruck zu gestalten. Zu erleben ist das auf ihrem Schubert gewidmeten Debut-Album Heimweh, das einen als Hörer sprachlos zurücklässt. Nicht zuletzt hält die junge Sängerin hier gleich mehrere Trümpfe in der Hand, als da wäre die wie stets kristallin klare Aufnahmetechnik des holländischen Labels Pentatone, vor allem jedoch die kongeniale Mitgestaltung der Lieder durch den Pianisten Gerold Huber, der sich als regelmäßiger Liedbegleiter des Baritons Christian Gerhaher einen Namen gemacht hat. Etwas besseres als dieser Pianisten konnte Anna Lucia Richter nicht zustoßen. Und dann ist da noch der Solo-Klarinettist de Wiener Philharmoniker Matthias Schorn, der im Lied “Der Hirt auf dem Felsen“, das eher eine ausgewachsene Konzertarie den ein Lied ist, mit traumhaft schöner Tongestaltung entscheidend dazu beiträgt, dass die hier besungene tiefe Heimweh in sämtlichen Nuancen glaubhaft mitleidbar wird. Von der Sängerin verlangt Schubert in diesem Lied, einem seiner letzten Lieder Koloratursicherheit und die Beherrschung eines enormen Stimmumfang, ganz abgesehen von der Fähigkeit, das schmerzende Gefühl des Heimwehwehs glaubhaft zu vermitteln. Über all diese Eigenschaften verfügt Anna Lucia Richter mit scheinbarer Leichtigkeit, die jedoch nicht nur eines großen Talents bedarf, sondern vor allem einem langjährigen Stimmtraining und der strengen Kontrolle des einmal Erreichten sowie dessen unerlässlich dauerhaften Verfeinerung. Seit ihrem neunten Lebensjahr befindet sich die Sängerin auf dem mühsamen Weg zum Profi, zunächst von ihrer Mutter Regina Dohmen unterrichtet, von Kurt Widmer in Basel ausgebildet und mit Auszeichnung bei Klesie Kelly-Moog an der Musikhochschule Köln zur Reife gebracht. Es folgten zahlreiche internationale Preise und Auftritte mit renommierten Orchestern und Dirigenten. Ihre frisch und jugendlich klingende und perfekt geführte Stimme hat dabei ganz offensichtlich an Ausdrucksfähigkeit und Durchsetzungskraft gewonnen. Möge ein verständiger und strenger Stimmbildner oder eine entsprechende Stimmbildnerin als Schutzengel über sie wachen, damit unsere ihre beträchtliche Stimmkunst lange erhalten bleibt.
Anna Lucia Richter, Sopran
Gerold Huber, Klavier
Matthias Schorn, Klarinette (Track 15)