Natalie Dessay - Pictures of America

Review Natalie Dessay - Pictures of America

Es reicht. Mit dieser Botschaft stieg die Koloratursopranistin anno 2013 mit gerade einmal 48 Jahren aus dem Opernkarussel aus. Sie habe nunmehr alles gesungen, was für Ihr Fach geschrieben wurde, und es wäre Zeit, sich zu neuen Ufern aufzumachen. Diese für eine Opernsängerin in den besten Jahren ungewöhnliche Entscheidung erinnert an den großen Pianisten Friedrich Gulda, der der reinen Klassikwelt im Zenit seiner Karriere zugunsten des Jazz ade sagte und nur hie und da seinem neuen Publikum demonstrierte, welch famoser Mozartinterpret er nach wie vor war. Während eines der Motive Guldas, den Klassikzirkus zu verlassen, auf die festgefahrenen Riten des Klassikpublikums zurückgeht, darf man als weiteres Motiv für den Ausstieg Natalie Dessays aus dem Opernkarussel ihre leidvoll erfahrene Erkenntnis vermuten, dass nonstop abverlangte Höchstleistung der Stimme auf Dauer nicht zuträglich ist. Nach einer Stimmbandoperation im Jahr 2002 musste sie eine dreijährige Zwangspause einlegen. So etwas möchte man kein zweites Mal erleben müssen. Konsequenterweise ist sie seit nunmehr gut drei Jahren dabei, auf der Ebene von Chansons und Musicals kleinere Brötchen backen. Auf das Chanson-Album „Entre elle et lui“ mit Michel Legrand aus dem Jahr 2013 folgt nunmehr das dem American Songbook gewidmete „Pictures of America“.

Nun sind ja Ausflüge von Opernsängerinnen und Opernsängern ins populäre Fach nicht immer ganz unproblematisch, besteht doch die Gefahr, dass opernmäßig geführte kräftige Stimmen für kleinere Stimmen geschriebene Songs schlicht und einfach platt machen. Man denke beispielsweise an José Carreras, dem es selbst unter der Anleitung des Komponisten Leonard Bernstein nicht gelang, seine schöne kräftige Opernstimme in der West Side Story glaubhaft auf die Musicalmaße eines Tony zu reduzieren. Trotz aller Mühen – in den Proben flogen, auf DVD nachprüfbar, die Fetzen – erinnert das Ergebnis fatal an einen Elefanten im Porzellanladen. Auch für ehemalige Operndiven gilt also, will man glaubhaft und fern von Peinlichem populäres Material präsentieren, muss die Stimme erst einmal transformiert werden. Das kostet Zeit und Kraft und erfordert eine kräftige Portion Selbstverleugnung. Und wahrscheinlich geht es auch nur dann, wenn man wie Natalie Dessay der Oper abgeschworen hat.

Ihr neues Album, auf dem sie vom dreißig Musiker starken Paris Mozart Orchestra unter Claire Gibault einfühlsam begleitet wird, demonstriert eindrucksvoll, dass es sehr wohl gelingen kann, seine Opernstimme in eine Musical- und Chanson-gerechte kleinere, im Falle der Dessay tiefer liegende, wieseflinke Stimme zu transformieren. Das gelingt der ehemaligen Operndiva durchgehend überzeugend, ohne dass man auch nur ahnt, welch schlagkräftige Stimme hinter dieser Sängerin steckt. Andererseits profitiert Natalie Dessay von ihrem Erfahrungsschatz als Opernsängerin, die Stimme stets optimal unter Kontrolle zu halten und dadurch Stimmungen und Klangfarben punktgenau zugunsten der zum Song passenden Atmosphäre zu realisieren.

Bilder des amerikanischen Malers Edward Hopper haben Natalie Dessays Auswahl der auf ihrem neuen Album präsentierten Songs motiviert: Einsamkeit und Melancholie bestimmen deshalb die Grundstimmung des Albums, die jedoch durchaus auch Lebensfreude aufkommen lässt. Dank hervorragender Aufnahmetechnik dieses hochaufgelösten Downloads kommt auch noch die kleinste Kleinigkeit der meisterlichen Gestaltung der Songs auf dem Album Pictures of America durch Natalie Dessay zur Geltung.

Natalie Dessay, Sopran, Erzähler
Paris Mozart Orchestra
Claire Gibault, Leitung

Natalie Dessay - Pictures of America

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